Ich wurde von Radio Potsdam eingeladen um über meine Geschichten speziell über "Tristia, meine kleine Traurigkeit" zu sprechen.

Leseprobe:

Ich erinnere mich noch genau, wie mir Tristia zum erste Mal begegnete. Es war eine
Zeit noch ohne Computer und Handy. Ich war 10, ging in die 5. Klasse, lebte mit
meiner Mutter allein in einer mittelgroßen Stadt, und - ich war dick.
Wie so oft saß ich nach dem Unterricht noch am Rand des Schulhofs auf meiner
Lieblingsbank. Es war der erste warme Frühlingstag, einige Blumen blühten schon
und die Bäume trugen zarte Blattspitzen. Normalerweise genoss ich das erste Grün,
die ersten Farben des Frühlings und das Zwitschern der Vögel. Aber heute konnte
mich nicht einmal das Glitzern der Sonne auf den Wellen des vorbeifließenden
Flüsschens erfreuen, welches ich durch den Zaun sehen konnte.
Eine seltsame Traurigkeit erfüllte mich. Seltsam, weil es zum traurig sein eigentlich
keinen Grund gab.
Es ist ein guter Schultag gewesen, einer, an dem mich meine Klassenkameraden in
Ruhe gelassen hatten. Niemand hatte mich geärgert, gehänselt oder ausgelacht, ich
hatte keine schlechte Note bekommen, und ich war am Nachmittag mit meiner
Freundin Lisa verabredet. Warum also fühlte ich mich dann so betrübt?
„Ich glaube, du kannst eine Freundin gut gebrauchen.“ Eine sanfte Stimme riss
mich aus meinen Gedanken. Neben mir saß plötzlich eine kleine dunkle Gestalt, die
wie verschwommen wirkte. Ich rieb mir die Augen. Da formte sich die Gestalt zu
einem Mädchen, einem Mädchen, das aussah wie ich, nur dass sie viel kleiner und
ganz grau war. Es kam mir vor, als schaute ich in einen Spiegel, dem die Farben
fehlten. Ihre Kleidung, Haare, Haut, Lippen - alles grau in grau und irgendwie halb
durchsichtig. Einzig ihre Augen waren wie meine, blau. Merkwürdigerweise
beunruhigte sie mich nicht. Im Gegenteil: Als sie leicht lächelte, spürte ich eine
Vertrautheit, eine eigenartige Verbundenheit.
„Mein Name ist Tristia, ich bin deine kleine Traurigkeit.“ Ungläubig schaute ich sie
an.

„Ich beobachte dich schon eine ganze Weile.“ Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass
sie eine Reaktion erwartete.
Verunsichert wich ich ihrem Blick aus und sah einem vorbeifliegenden Vogel nach.
„Wenn du möchtest, können wir Freundinnen werden, beste Freundinnen, die alles
miteinander teilen, die sich alles erzählen, die immer füreinander da sind.“ Ihre
Stimme klang, als meinte sie es ernst.
Tristias Worte versetzten mir einen Stich, und ich sprang auf.
„Ich habe eine Freundin!“ rief ich energisch, als wollte ich mich selbst davon
überzeugen. Ich schnappte meine Schultasche und machte mich mit schnellen
Schritten auf den Heimweg.
„Bist du dir sicher? Warum sitzt du dann allein hier?“ rief mir Tristia nach.
Zu Hause angekommen, wärmte ich mir das vorbereitete Essen auf. Danach
erledigte ich die Hausarbeiten, die meine Mutter mir per Zettel aufgetragen hatte. Sie
schrieb, dass es am Abend wohl etwas später werden würde und:
„Vielleicht kannst Du bei Lisa Abendbrot essen? Hab einen schönen Tag. Mutti“
Die ganze Zeit kreisten meine Gedanken um die Begegnung mit Tristia. So
beschloss ich, ein Bild von ihr zu zeichnen. Vielleicht, um es jemandem zu zeigen?
Sollte, könnte ich jemandem von Tristia erzählen? Meine Mutter war immer sehr
müde, wenn sie von der Arbeit kam und hatte sicher keinen Kopf für seltsame
Geschichten. Und Lisa? Würde sie mir glauben, wie reagieren?

 

                                                                2


Ungefähr eine Woche später wartete ich wieder auf meiner Lieblingsbank darauf,
dass alle anderen Schüler gegangen waren, um ihnen auf dem Heimweg nicht zu
begegnen. Wieder fühlte ich diese tiefe Traurigkeit, aber diesmal hatte ich einen
Grund: Es war ein übler Tag, ich hätte allen Grund gehabt, immer noch wütend zu
sein. Wut hätte ich irgendwie rauslassen, mich abreagieren können, dann wäre es
mir besser gegangen. Aber da war nur diese Traurigkeit.
„Willst du mir erzählen, was geschehen ist?“ Tristia saß plötzlich neben mir.
Ich schüttelte wortlos den Kopf und senkte den Blick.
Tristia rutschte dicht an mich heran. So konnte ich spüren, dass von ihr eine
wohlige Wärme ausging. Eine Weile saßen wir stumm nebeneinander. Da legte sie
ihren Arm um mich, und langsam durchdrang ihre Wärme meinen ganzen Körper.
Sie flüsterte: „Reden befreit, versuch es nur.“
Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus mir heraus, als hätte sie einen Knopf
gedrückt:
„Kai hat diesmal angefangen. In der großen Pause stand ich mit Lisa an der alten
Eiche. Kai schlich sich von hinten an, riss mir die Schultasche aus der Hand, hielt
sie mir hin und sagte: 'Hier, nimm sie dir, wenn du kannst.'
Ich griff nach meiner Tasche. Da rannte er los.
'Na komm schon, hol sie dir!' rief er.
Ich rannte hinterher, aber natürlich, dick wie ich bin, konnte ich ihn nicht einholen.
Immer wieder blieb er stehen und rief:
'Komm schon, Schwabbelschwarte! Schon müde?'
Wenn ich ihn fast eingeholt hatte, rannte er lachend ein Stück weiter. Ich wurde
wütend, lief so schnell ich konnte, Tränen liefen mir über das Gesicht.
Ich brüllte: 'Gib mir meine Tasche, du Idiot!'
So ging es immer rund um die Eiche. Inzwischen schauten die anderen meiner
Klasse und die Großen aus der 6. zu. Alle lachten und feuerten mich höhnisch an.
'Ja, du schaffst es, gleich hast du ihn eingeholt!
Schneller, Schwabbel, schneller!'
Ich aber, völlig außer Puste, musste stehen bleiben. Kai war inzwischen auf der
Höhe von Lisa und warf ihr die Tasche zu. Schwer atmend ging ich auf Lisa zu, die
mir meine Tasche reichte.
Alle grölten, riefen: 'Buhh! Schiebung! Specky soll laufen!'
Als ich vor Lisa stand, riss sie die Tasche in die Luft. Ich sah sie flehend an. Lisa
grinste kalt und schaute mich an, als sei ich jemand anderes, eine Fremde, nicht
ihre Freundin. Meine Tasche über dem Kopf rannte sie los.
Die anderen klatschen Beifall und lachten.
'Lauf Schwabbel, lauf, du kriegst sie!'

Gerade wollte ich Lisa hinterher, da klingelte es. Sie blieb stehen, stellte meine
Tasche ab und ging mit den anderen rein, ohne sich nach mir umzusehen. Da kam
Kai angelaufen, schnappte sich meine Tasche und warf sie ins Blumenbeet mit den
Brennnesseln.“
Erst jetzt sah ich Tristia an und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht:
„Und natürlich kam ich zu spät in den Unterricht. Alle lachten, und es gab einen
Eintrag ins Klassenbuch.“
Tristia nahm meine Hand, die noch immer voller roter Pusteln war: „Tut es noch
weh?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Viel mehr, dass Lisa mir wieder nicht geholfen hat.“
„Was ist das für eine Freundin, die dir nicht hilft, die dich nicht begleitet, obwohl ihr
denselben Schulweg habt?“ fragte Tristia mit ruhiger Stimme.
Wieder rollte eine Träne über meine Wange.
„Woher weißt du das? - Aber manchmal gehen wir zusammen. Und wir verbringen
fast jeden Nachmittag miteinander. Wir mögen die gleichen Dinge, lachen viel
zusammen und erzählen uns alles“, versuchte ich Lisa zu verteidigen.

„Hast du Lisa von mir erzählt und fragst du sie, warum sie dich im Stich lässt?“
Noch bevor ich antworten konnte, löste sich Tristia auf.
„Nein“, sagte ich fast unhörbar leise.
„Ich habe Angst, dass sie dann gar nicht mehr mit mir zusammen sein möchte.“
Ich blieb noch eine ganze Weile sitzen, blickte aufs Wasser und überlegte, ob Tristia
recht hatte. Vielleicht wäre sie eine bessere Freundin.
Mit einem hatte sie jedenfalls recht: Reden befreit wirklich, zumindest für den
Moment.


                                                                        3


Einige Zeit später hoffte ich auf einen ruhigen Schultag. Um Ärger aus dem Weg zu
gehen, richtete es ich so ein, dass ich als Letzte, zur ersten Stunde, in die Klasse
kam. Als hätte ich geahnt, was kommen würde.
Sören und Kai warteten an der Tür auf mich, nahmen mir meine Tasche ab und
warfen sie auf den Klassenzimmerschrank.
„Ihr seid so blöd! Was soll das?“ rief ich genervt, ging zum Schrank und versuchte
auf Zehenspitzen, die Tasche zu fassen zu bekommen. Lisa lehnte am Schrank.
„Kommst du da ran? Du bist doch größer als ich“, sagte ich, ohne sie anzusehen.
Als ich Lisa ansah, hatte sie wieder diesen Blick.
„Lisa, bitte hilf mir, ich kriege sie nicht.“
In diesem Moment packten mich Kai und Sören an den Armen.
„Sollen wir dir vielleicht helfen?“
Ich versuchte mich loszureißen. Wütend brüllte ich:
„Lasst mich los, ihr Idioten!“
„Was hast du denn? Wir wollen dir doch nur helfen.“
Die anderen lachten gehässig. Mit aller Kraft schüttelte ich mich, bewegte die Arme
und trat nach allen Richtungen. Aber auch mein Schreien nutzte nichts.
Sören rief: „Lisa, mach die Tür auf!“
Was Lisa tat. Sie schoben mich in den Schrank und schlossen die Tür ab. Tränen
stiegen mir vor Wut in die Augen. Ich tobte, fluchte, schrie, trommelte gegen die Tür,
bis es zur Stunde klingelte.


Ich erstarrte. Mir schoss durch den Kopf: erste Stunde Mathe bei Herrn Jäger. Was
sollte ich tun? Herr Jäger war streng und mochte mich nicht besonders. Ich fühlte
mich so klein und hilflos und bekam es mit der Angst: Angst, ausgeschimpft zu
werden und Angst, ausgelacht zu werden.
Ich hörte, wie die Klasse Herrn Jäger begrüßte.
„Guten Morgen, setzten!“ sagte der zackig.
Ich blieb ganz still, bewegte mich keinen Millimeter, doch mein Herz klopfte so
heftig, dass ich es spüren konnte.
Er fuhr fort: „Die Anwesenheit! Achtung, bitte! Arnt, Kai?“
Sollte ich ganz ruhig die ganze Stunde hier drin bleiben? Aber das hieße, eine
unentschuldigte Fehlstunde, eingetragen im Klassenbuch und einen Brief an meine
Mutter.
Da hörte ich meinen Namen, reflexartig rief ich: „Hier!“
Gleich brach schallendes Gelächter los. Mit Schwung ging die Tür auf.
Ich hätte im Erdboden versinken mögen. Mit einem Wink von Herrn Jäger war es
plötzlich still.
„Dies ist nicht meine Art von Humor!“ Er zog mich am Arm aus dem Schrank.
„Wessen Idee war das?“ zischte er mich an. Betreten schaute ich auf meine Schuhe.
In die Klasse fragte er noch einmal: „Wessen Idee war das?“ Niemand antwortete.
„Wenn mir jemand etwas zu sagen hat... Ich bin bis zur 6. Stunde im
Lehrerzimmer.“ Er schickte mich auf meinen Platz.
Nach dieser Stunde und zum Ende des Unterrichts machten mir Kai und Sören
unmissverständlich klar, was mir geschehen würde, wenn ich etwas sagte.
Als ich auf den Schulhof zu meiner Bank ging hoffte ich, Tristia würde erscheinen,
und ich könnte ihr alles erzählen. Ich schaute eine Weile aufs Wasser. Meine Wut,
die Angst waren verflogen. Sie wichen der Traurigkeit.
„Ich weiß, was passiert ist.“ Es tat gut, Tristias Stimme zu hören.
„Herr Jäger denkt, ich hätte ihm einen Streich gespielt.“
Erst jetzt fiel mir auf, dass sie etwas größer war als bei unserer letzten Begegnung.
„Soll ich sagen, wie es wirklich war?“
Tristia zog eine Augenbraue hoch: „Du weißt, was dann kommt!?“
Ich nickte. „Ein Brief an meine Mutter, der ich dann alles erklären müsste. Und wenn
sie wüsste, dass ich geärgert werde, würde sie sich Sorgen machen.“
„Ein Gespräch mit den Jungs und dem Klassenlehrer. In dem sie zum Schein ihren
Fehler einsehen und bereuen und versprechen, es nie wieder zu tun“, ergänzte
Tristia.
„Und dann hätten sie erst recht einen Grund, weil sie dann auch noch sauer auf
mich wären.“ Ich seufzte tief.
„Ja, ich weiß. Hoffentlich unternimmt Herr Jäger nichts weiter. Warum nur haben die
es auf mich abgesehen, was ist mit mir nicht richtig?“
Tristia legte ihren Arm um mich. Gleich spürte ich ihre Wärme.
„Na das ist doch klar. Du bist dick und damit anders als die anderen, nicht stark
genug, um dich erfolgreich zu wehren, nicht cool genug, um sie zu beeindrucken,
nicht clever genug, um sie auszutricksen. Und du bietest eine gute Show.“
„Wie meinst du das, eine gute Show?“
Tristia zuckte mit den Schultern.
„Na, du wehrst dich, tobst, strampelst, schreist, heulst. Daran haben sie Spaß, das
ist unterhaltsam, genau das wollen sie, dafür bekommen sie Applaus von den
anderen.“
„Was soll ich machen? Es macht mich einfach wütend, wie sie mich behandeln, es
ist so ungerecht, ich habe ihnen nichts getan. Ich kann doch meine Gefühle nicht
abstellen?“
Tristia sah mir fest in die Augen. „Abstellen vielleicht nicht, aber versuchen, sie
nicht zu zeigen. Merke: Wenn sie wissen, wie und womit sie dich wütend machen
können, werden sie es tun.“
Ich überlegte kurz. „Du meinst, wenn ich so tue, als lässt mich kalt, was sie machen,
verlieren sie den Spaß, weil ich ihnen die Show vermiese? - Das wird aber nicht
einfach.“
„Wenn du willst, kann ich Dir dabei helfen! Freundinnen?“ Tristia lächelte und hob
die Hand. „Schlag ein!“
Ich gab ihr High five: „Freundinnen!“
Es tat so unsagbar gut, einen Plan zu haben, endlich das Gefühl, etwas tun zu
können, nicht mehr hilflos zu sein, eine Chance zu haben, dass Kai und Sören bald
aufhören würden, mich zu ärgern.

„Das sollte doch gefeiert werden. Meinst du nicht?“ Tristia sah mir in die Augen.
Ihre schienen ganz besonders blau zu strahlen.
„Aber natürlich, das muss gefeiert werden! Komm, wir gehen zu mir und machen
uns einen schönen Nachmittag“, antwortete ich ganz aufgeregt.
„Ach nein, meine Mutter ist noch zu Hause. Sie hat Spätschicht, sie wird dich sehen.
Was sagen wir, wer du bist?“
„Keine Angst!“, beruhigte mich Tristia.
„Nur du kannst mich sehen. Wie wäre ein Bettpicknick?“ feixte Tristia.
Ich stutzte kurz: „Perfekt! Kannst du Gedanken lesen?“


                                                                     4


Von nun an erschien mir Tristia immer öfter. So blieb immer weniger Zeit für Lisa
und das, was ich am liebsten tat: zeichnen. Beim Zeichnen konnte ich alles um mich
herum vergessen oder meine Gedanken ordnen, Erlebnisse festhalten, schöne
Dinge, die es nur in meinem Kopf gab, zumindest auf dem Papier real werden
lassen. Und das Beste: Ich konnte mit meinen Bildern, wenn ich sie verschenkte,
anderen eine Freude machen.
Aber war ich mit Tristia zusammen, schien mir nichts zu fehlen. Nicht einmal das
Lachen. Mit Lisa habe ich immer sehr viel gelacht, oft so heftig, dass unsere Bäuche
wehtaten.
Dafür machten Tristia und ich es uns jedes Mal in meinem Bett gemütlich, bauten
vor uns all meine Süßigkeiten auf und aßen so viel, bis wir pappsatt waren. Jeder
Bissen tat gut. Nicht nur, weil es unglaublich lecker war – jeder Bissen machte ein
kleines warmes Gefühl. Dasselbe warme Gefühl, wie es eine Berührung von Tristia
machte. Ich konnte nicht eher aufhören, bis aus vielen kleinen warmen Gefühlen ein
großes wurde, welches meinen ganzen Körper mit purer Zufriedenheit zu füllen
schien.

Wir malten uns aus, wie ich mich gegen Kai und Sören wehren könnte:
„Wie wäre es, wenn ich immer, wenn sie mich ärgern, 2 Meter groß werde und sie
Angst vor mir bekommen? Oder ich meine Arme zu doppelter Länge ausfahren
könnte, und sie so auf Abstand halten? Oder ich könnte ganz hoch springen und
ihre Schultaschen so hoch verstecken, dass sie, wenn sie sie finden, nicht
herankommen?“
Tristia überlegte sich: „Wie wäre es, wenn du so schnell laufen könntest, dass du
sie immer einholen würdest? Oder, wenn du das coolste Kind der Schule wirst, so
cool, dass dich auch die Großen bewundern? Dann würden sie dich bestimmt nicht
mehr ärgern.“
„Ja, oder ich würde das klügste Kind. Auch wenn sie das nicht beeindruckt, würde
mir immer etwas einfallen, sie auszutricksen“, begeisterte ich mich. Kurz dachte ich
nach.
„Und, wenn ich mit Lisa rede und sie überzeuge, mir zu helfen? Gemeinsam
könnten wir uns die beiden mal richtig vorknöpfen, so dass sie nie wieder auch nur
auf die Idee kommen, irgendjemanden zu ärgern.
Aber zu jeder Idee sagte Tristia dann doch: „Nein, das geht nicht, das schaffst du
nicht, das kannst du nicht, das brauchst du gar nicht erst zu versuchen!“

Wenn ich in der Schule wieder geärgert wurde und ihr erzählte, wie ich mit aller
Kraft versuchte, ruhig zu bleiben, sagte sie:
„Es ist immer noch deine Schuld. Du machst es nicht gut genug, du musst dich
mehr anstrengen!“
Dabei klappte es immer besser. Ich stellte mir dann vor, wie etwas von dem
Ausgedachten wirklich eintrat, so intensiv, dass ich fast gar nicht mehr mitbekam,
was eigentlich geschah. Ich stellte mir vor, wie dumm sie aus der Wäsche gucken
würden, wie die andern aus der Klasse riesige Augen machten und die Großen
erst...
„Irgendwann, wenn du nicht mehr wütend wirst, werden sie den Spaß verlieren. Du
wirst es sehen. Und so lange lassen wir es uns gut gehen“, sagte Tristia und steckte
mir ein Stück Schokolade in den Mund.
In diesem Moment musste ich daran denken, dass soviel Süßigkeiten sicher nicht
gesund waren und meine Hosen kaum noch zugingen, ich also dicker geworden
war.
So wie ich dicker wurde, wurde es Tristia genauso, und ein gutes Stück gewachsen
schien sie auch zu sein.
Aber als ich die Süße der Schokolade schmeckte und mir wohlig warm wurde, sagte
ich nur: „Ja, wir lassen es uns gut gehen.“
Tristia antwortete: „Weißt du was? Ich bleibe heute Nacht einfach hier.“


                                                                                 5


„Guten Morgen! Na, du Murmeltier, aufstehen!“ flötete meine Mutter vom Flur aus in
mein Zimmer.

Ich öffnete meine Augen. Das erste, was ich sah, war Tristia, die nun genau meine
Größe erreicht hatte. Sie saß, wie inzwischen an jedem Morgen, in meinem Bett am
Fußende und wartete darauf, dass ich erwachte.
„Du wolltest doch schon längst das Bild für Oma zum Geburtstag malen“, ermahnte
mich meine Mutter.
„Ich muss den Brief heute noch abschicken. Also am besten, du machst es noch vor
dem Frühstück fertig, damit wir dann gleich los können.“
Ich stöhnte laut: „So früh?“
Meine Mutter steckte den Kopf in mein Zimmer.
„Was ist los, du schläfst doch sonst nicht so lange? Ach komm, wenn ich schon
mal einen Samstag frei habe. Das müssen wir doch nutzen. Wir können nach dem
Einkaufen noch was Schönes unternehmen. Worauf hast du Lust?“
Eigentlich freute ich mich immer darauf, Zeit mit meiner Mutter zu verbringen, und
lange bitten, ein Bild zu malen, musste man mich auch eigentlich nicht. Aber
seitdem Tristia da war, hatte ich kaum noch zu etwas Lust.
„Willst du wirklich schon aufstehen? Es ist doch gerade so gemütlich.“ Tristia
kuschelte sich an mich.
„Aber Oma ist bestimmt sehr traurig, wenn ich ihr kein Bild schenke.“
Ich wurstelte mich gähnend aus dem Bett, setzte mich an den Schreibtisch und
nahm den Zeichenblock und meine Stifte-Kiste aus der Schublade.
„Ich zeichne Omas Lieblingsblumen, Mohnblumen, ein ganzes Feld voll.“ Ich stellte
mir vor, wie sie im Winter, wenn es keine Mohnblumen gab, mein Bild betrachtet und
vor Freude lächelt.
Als ich den roten und grünen Stift bereitlegte, wunderte ich mich. Die Farben sahen
so blass aus, gar nicht kräftig strahlend, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich wühlte
in der Kiste. Komisch, alle Stifte schienen wie ausgeblichen. Auch auf dem Papier
leuchteten die Farben nicht.

Mein Bild hatte ich mir bunt und fröhlich vorgestellt. Wie ein Sommertag in einem
Mohnfeld. War es aber nicht, es sah irgendwie traurig aus.
„Na, wenn du meinst, dass sich deine Oma über dieses komische Bild freut.“ Tristia
verzog das Gesicht.
„Schau dir das doch mal an, so sieht doch keine Mohnblume aus. Und die Wolken
sehen aus wie an den Himmel genagelte Felsbrocken, nicht leicht und schwebend.
Das ist doch alles ganz falsch.“
Zeichnen hatte mir immer viel Spaß gemacht. Ich hatte mich nie gefragt, ob es
falsch oder richtig ist. Aber vielleicht hatte Tristia recht, und meine Bilder waren
schlecht, so schlecht, dass sich niemand daran erfreute.
Meine Mutter kam ins Zimmer, brachte mein Lieblingsshirt und legte es aufs Bett.
„Willst du doch bestimmt heute anziehen?“ sagte sie und nahm mein Bild mit
hinaus.
„Oh gut, dann mache ich den Brief gleich fertig. Ist schön geworden.“
Ich sah Tristia fragend an.
Sie sagte voller Überzeugung: „Mütter sagen immer, dass ihnen gefällt, was ihre
Kinder machen. Das sagt gar nichts!“
„Was möchtest du frühstücken? Wie immer?“ fragte Mutter aus der Küche.

„Ähh, also eigentlich...“ Tristia unterbrach mich und zischte mich an.
„Pschhht!“
„Ja, wie immer!“ rief ich.
„Du kannst doch nicht sagen, dass du keinen Hunger hast. Sie wird fragen, warum
nicht. Du musst ganz normal frühstücken“, fuhr mich Tristia an.
Ich antwortete: “Du hast ja recht. Ganz fest habe ich meiner Mutter versprochen, nur
noch eine Süßigkeit am Tag zu essen. Kein Stück mehr, damit ich nicht noch dicker
werde.“
Wenn sie gewusst hätte, dass ich am Abend mit Tristia nicht nur meine ganze
Wochenration Süßigkeiten gegessen hatte, sondern auch noch an der
Vorratsschublade in der Küche war und Eis aus dem Tiefkühlschrank genommen
hatte, hätte sie geschimpft und unser gemeinsamer Tag wäre im Eimer gewesen.
Aber bis sich das warme zufriedene Gefühl einstellte, musste ich immer mehr und
mehr essen. Da reichte eine Süßigkeit lange nicht, nicht mal mehr die
Wochenration.
Also aß ich ganz normal mein Frühstück, obwohl ich nach wenigen Bissen fast
platzte und das ungute Gefühl hatte, meine Mutter anzuschwindeln. Aber es sollte
doch ein schöner Tag werden.


                                                                       6


Ich habe Einkaufen noch nie gemocht, besonders Anziehsachen und ganz
besonders Hosen nicht. Ich stand in der Umkleidekabine im inzwischen dritten
Laden im Einkaufszentrum. Meine Mutter war schon sehr genervt, weil wir immer
noch keine Hose gefunden hatten, die passte. Ich weiß nicht, wie viele ich
inzwischen schon probiert hatte.
Ich hörte die Verkäuferin kommen: „So, das ist unsere letzte Chance, die größte
Kurzgröße, die wir führen“, schnaufte sie.
Eine Hand reichte mir eine unfassbar hässliche Hose in die Kabine, knallgrün mit
einem undefinierbaren braunen Muster.
Ich flüsterte angewidert: “Die geht gar nicht!“
„Wer so dick ist wie du, muss anziehen was passt, auch wenn es dir nicht gefällt“,
sagte Mutter vorwurfsvoll.
Und zur Verkäuferin fast verzweifelt: „Ich weiß nicht, was mit dem Kind nicht
stimmt. In letzter Zeit wird sie immer schneller immer dicker – man kann fast
zuschauen. Dabei isst sie gar nicht so viel. Wie andere Kinder in der Länge aus
ihren Sachen wachsen, tut es meine Tochter in der Breite.“
„Ach, Sie Arme, leicht haben Sie es da sicher nicht, passende Sachen zu finden.
Gesund ist das ja auch irgendwann nicht mehr, na, und schön...“ Sie sprach den
Satz nicht zu Ende.
„Was soll nur werden, wenn sie groß ist, wenn es so weitergeht?! Sie soll doch
nicht, weil sie dick niemand mag, allein bleiben und den Rest des Lebens
unglücklich sein“, sagte Mutter leise. Aber ich konnte es trotzdem hören, auch, was
die Verkäuferin flüsterte: „Vielleicht isst sie ja heimlich?“
„Und, passt die?“ Meine Mutter riss den Vorhang auf, ohne zu fragen, ob ich fertig
bin und zerrte mich aus der Kabine.

Ich stand da, in einer Hose, die aussah wie eine Wiese voller Kuhfladen. Mir war
klar, dass ich in der Schule in dieser Hose nichts zu lachen haben würde, sagte aber
nichts, denn es war ja meine Schuld, dass ich so dick war. Ich hoffte nur, meine
Mutter würde sehen, wie hässlich die Hose war und sie nicht kaufen.

Die Verkäuferin zottelte an mir herum: „Also oben passt sie. Ist sogar noch etwas
Platz. Sitzt auch am Hintern. Naja und die Beine, die sind so lang, da hilft
umkrempeln nicht mehr. Aber die können wir Ihnen kürzen. Könnten sie Mittwoch
abholen.“
Während sie die Hosenbeine nach oben umschlug und mit Stecknadeln fixierte,
schaute ich meine Mutter flehend an.
„Schluss, du musst gar nichts sagen! Ich habe keine Lust, den ganzen Tag hier mit
dir zu vertrödeln. Die passt, die wird gekauft. Basta! Immer diese Extrawürste für
dich. Einmal möchte ich erleben, dass wir auf Anhieb etwas finden.“
Die Verkäuferin sah mich, dann meine Mutter mit einem so bedauernden Blick an,
als sei ich nichts als eine Last.
Ich wusste, es nutzt nichts zu widersprechen, und jedes Wort gegen diese Hose
würde meine Mutter so wütend machen, dass sie es den Rest des Tages bleiben
würde.
Als sie zur Verkäuferin sagte:„Ich nehme gleich zwei, wer weiß, wann man wieder
eine Hose findet, die halbwegs passt“ , musste ich mir sehr kräftig auf die Zunge
beißen.

Kurz darauf standen wir vor dem Laden und meine Mutter sagte:
„Die Hosen holst du aber ab. So schlimm sind sie gar nicht, das ist eben gerade
Mode. Ach, komm, lach doch mal.“
Ich musste mir das Weinen verkneifen. Diese Hosen sahen mehr als schlimm aus,
und nun hatte ich gleich zwei davon. Ich zwang mich, meiner Mutter zuliebe, zu
einem Lächeln.
„Geht doch! Zur Feier des Tages spendiere ich uns ein großes Eis.“
Auch dazu nickte ich, meiner Mutter zuliebe, obwohl mir absolut nicht nach Eis
essen war. Eigentlich wollte ich nie wieder etwas essen, für den Rest meines ganzen
Lebens nicht.
Mit einem großen Schokoladeneis für mich und einem großen Erdbeereis für meine
Mutter schlenderten wir in Richtung Ausgang.
„Mhhhh!“, wenn es nur nicht so gut schmecken würde, dachte ich gerade, als mir
zwei Mädchen aus meiner Klasse tuschelnd entgegenkamen. Als sie auf meiner
Höhe waren, hörte ich, wie Jasmin zu Marie sagte:
„Kein Wunder, dass die so fett ist, stopft sich immer schön mit Eis voll. Ich würde
mich ja schämen an ihrer Stelle.“
Ich tat so, als hätte ich es nicht gehört und versuchte, cool zu wirken. Aber ich war
den Tränen nah. Jeder Mensch, dem wir nun begegneten, schien mich anzusehen,
dasselbe zu denken und meiner Mutter einen bedauernden Blick zuzuwerfen.
Ich hatte genug, wollte nur noch nach Hause, mich im Bett verkriechen und Tristia
mein Herz ausschütten. Meine Mutter war sehr enttäuscht, versuchte, mich zu
überreden, noch etwas mit ihr zu unternehmen. Aber sie merkte dann doch, dass es
keinen Sinn hatte.
Tristia hatte fast prompt eine Lösung parat:
„Ganz einfach: Du isst keinen Süßkram mehr in der Öffentlichkeit, wenn überhaupt,
dann nur was Gesundes. Dann kann niemand mehr etwas sagen. Und wenn du
Menschen nicht mehr ins Gesicht schaust, merkst du nicht, wenn sie dich oder
deine Mutter komisch ansehen.“
Das klang einleuchtend und durchaus realisierbar. Ich war erleichtert, dass es eine
einfache Lösung zu geben schien.
„Wenn du willst, kann ich dich begleiten, wenn du rausgehst und dich
unterstützen“, sagte Tristia fast beiläufig.
Ich nickte in Gedanken, aber antwortete mit fester, entschlossener Stimme:
„Ab sofort halte ich mich an die Abmachung mit meiner Mutter. Ich werde nur noch
eine Süßigkeit am Tag essen!“
Tristia kramte unter dem Bett in einer Kiste und holte eine Tüte Haselnuss-Nougat-
Happen und meine Lieblingskekse hervor.
„Gut, wenn du meinst, du schaffst das. Schau mal, was ich noch entdeckt habe.“
Sie öffnete die Tüte, wickelte ein Stück Nougat aus, öffnete langsam den Mund und
ließ es sich mit geschlossenen Augen auf der Zunge zergehen.
Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich stellte mir vor, wie das Nougat auf der
Zunge schmilzt, wie dieser unwiderstehliche Geschmack samtweich den ganzen
Mund ausfüllt und noch lange auf der Zunge bleibt.
Tristia wickelte das nächste Stück aus.

„Kannst du wirklich darauf verzichten?“
Ich sagte kein Wort, wünschte mir aber nichts mehr als dies Stück Nougat.


                                                                      7


„Soll ich nicht doch mitkommen?“, fragte Tristia, als ich mich am
Mittwochnachmittag aufmachte, die Hosen abzuholen.
„Nein, ich beeile mich, bin ja gleich wieder da.“ Tristia machte ein enttäuschtes
Gesicht.
„Ich habe Taschengeld bekommen und bringe Leckeres aus dem neuen
Süßigkeitenladen im Einkaufszentrum mit. Ich bin vielleicht gespannt. Die haben
bestimmt Neues und ganz Besonders. Das verputzen wir dann gleich“, sagte ich
beschwichtigend.
„Na gut, aber mach schnell und denke dran: niemanden anschauen.“
Natürlich dachte ich daran, und es funktionierte wirklich. Schwer und ungewohnt
war es, die Verkäuferin nicht anzusehen, die mir die Hosen aushändigte. Aber ihrem
Blick wollte ich auf keinen Fall begegnen.
Mir reichte, wie sie mit einem ironischen Unterton sagte: „Viel Freude an den
Hosen!“
Ich steuerte voller Vorfreude auf die „Süße Ecke“ zu. Da tippte mir jemand auf die
Schulter. Erschrocken drehte ich mich um.
„Hey, hast du mich nicht gesehen? Ich habe gewunken.“ Es war Lisa.
„Wir haben uns lange nicht mehr getroffen. Ich wollte an unsere Lieblingsstelle am
Fluss. Wie wäre es, hast du Zeit?“
Ohne lange zu überlegen sagte ich: „Ja.“
Es war der schönste Nachmittag seit langer Zeit. Ich genoss die Wärme der Sonne,
die leichte kühle Brise, die ab und zu vom Fluss herüberkam, die Farben der Bäume
und Blumen, den Gesang der Vögel. Und das Glitzern der Sonne auf den Wellen
schien noch nie so bezaubernd gewesen zu sein. Aber am meisten genoss ich das
Zusammensein mit Lisa. Wir alberten herum und lachten, bis uns alles wehtat. Fast
hatte ich vergessen, wie viel Freude man haben kann.

Erst auf dem Heimweg dachte ich an Tristia und bekam ein schlechtes Gewissen. Es
war spät geworden, die Geschäfte hatten schon zu. Ach, bestimmt würde sie sich
mit mir darüber freuen, dass ich eine wunderbare Zeit hatte - hoffte ich.
„Du weißt schon, dass ich deine einzige richtige Freundin bin und Lisa dich nur
benutzt. Immer nur, wenn ihr langweilig ist, erinnert sie sich an dich. Du glaubst
doch nicht, dass sie dich mag, dass dich irgendjemand mag außer mir! Und Süßes
hast du auch nicht mitgebracht!“, fuhr mich Tristia eingeschnappt an, als ich nach
Hause kam. Sie wollte nichts mehr hören und sagte den ganzen Abend kein einziges
Wort. Wir gingen schweigend schlafen. Von ihr ging plötzlich eine Kälte aus, die
mich frösteln ließ. Ich zog die Bettdecke ganz hoch und dachte nach. Stimmte, was
Tristia sagte?
An dem Tag, an dem meine Mutter darauf bestand, eine der neuen Hosen zum

ersten Mal anzuziehen, fragte ich Tristia, ob sie mich in die Schule begleiten würde.
Ich hatte wirklich Angst, allein zu gehen. Zum Glück ließ sie sich nicht lange bitten.
Als wir nebeneinander herliefen, fiel mir auf, dass sie nun größer war als ich.
Gerade wollte ich fragen, wie Tristia so schnell wachsen konnte – da, ein Gelächter
hinter mir. Marie und Jasmin gingen vorbei.
„Schöne Hose! Aus welcher Altkleidersammlung des schlechten Geschmacks hast
du die denn gefischt?“
Ich sah an mir herunter. Merkwürdig, hatte sich die Farbe verändert? Ich fand sie
gar nicht mehr so krass grün, eher graugrün, das braune Muster stach gar nicht
mehr so raus.
Auf dem Schulhof trafen wir dann auf Kai und Sören.
„Was ist das denn, das blendet ja vor Hässlichkeit in den Augen!“
„Ist das Kunst oder kann das weg?“
„Ach nein, Schwabbel hat sich eingemacht, die ganze Hose voller Kackflecken!“
„Hast Du Angst? Und deshalb AA gemacht? Ohh, Angst vor uns?“ wechselten sich
die beiden ab. Sie lachten laut und riefen im Chor:
„Baby Schwabbel hat sich eingekackt, Schwabbelschwarte hat die Windeln
übervoll.“
Ich merkte, wie Wut in mir hochstieg. Und als ich mich fast nicht mehr zurückhalten
konnte und etwas zurückschreien wollte, legte Tristia ihre Arme von hinten um
mich. Das Rufen der Jungs schien auf einmal ganz weit weg, ganz leise zu sein, sie
verschwammen vor meinen Augen und wurden grau. Alles um mich wurde langsam
grau, als würden alle Farben verschwinden. Ich hatte keine Wut und keine Angst
mehr. Tristias Wärme durchströmte meinen Kopf und Körper, sie machte mich ganz
ruhig.
Fast bekam ich gar nicht mit, dass meine Klassenkameraden mich umringten, und
nicht aufhören wollten zu rufen:
„Schwabbel hat die Hose voll, Schwabbel braucht ne neue Windel, Specky hat sich
eingekackt!“
Auch als ich Lisa am Rand stehen sah, blieb ich ganz ruhig. Es war, als ginge es gar
nicht um mich. Alles schien wie im Nebel: grau und leise.

Die Klingel zum Einlass beendete das Spektakel. Als alle hineingingen, ließ mich
Tristia los, und ich war wieder zurück im Hier und Jetzt. Nur die Farben kamen nicht
zurück. Um mich herum blieb es Grau.
Tristia schaute mir fest in die Augen:
„Ich hoffe, jetzt weißt Du, wer deine einzige Freundin ist!“

 

                                                                           8


Seit diesem Tag wich mir Tristia nicht mehr von der Seite. Sie und die Traurigkeit
begleiteten mich überall hin. Zwar konnte Tristia mir gegen die Wut helfen, aber
dafür schürte sie meine Selbstzweifel, das Gefühl, nichts richtig zu machen und von
niemandem gemocht zu werden. Irgendwann hatte ich zu eigentlich nichts mehr
Lust, konnte mich an nichts mehr freuen, nicht mehr lachen.
Den Sommer und Herbst verbrachte ich, wenn ich nicht in der Schule war, mit Tristia
im Bett sitzend und Süßkram essend. Dabei überlegten wir uns für alle möglichen
Situationen: „Was wäre, wenn...?“, damit ich vorbereitet wäre, egal, was immer
kommen würde.
Einmal entdeckte meine Mutter unter meinem Bett die Kiste mit all den leeren
Verpackungen der Süßigkeiten, die ich dort versteckt hatte und hielt mir eine

Riesenstandpauke: Wie ungesund das viele Naschen sei, dass ich allein Schuld
daran sei, wenn ich immer dicker werden würde, so dick, bis ich ernsthaft krank
wäre, so anderen zur Last fallen und auch niemanden finden würde, der mich, dick
und hässlich, liebhaben könnte.
Diese Worte hätte es nicht noch gebraucht, denn schon länger hatte ich immer,
wenn ich Süßes aß, ein schlechtes Gewissen. Ich wusste, dass es mir nicht gut tun
würde, und ich fühlte mich nicht wohl in meinem Körper. Mich so zu bewegen wie
früher, fiel mir schwer. Auch war ich sehr schnell außer Atem. Außerdem begann ich
mich zu schämen, vermied es zum Beispiel beim Sportunterricht, mich vor allen
umzuziehen und kurze Sachen zu tragen - auch im Sommer bei brüllender Hitze.
Baden zu gehen kam überhaupt nicht in Frage. In einem Badeanzug konnte ich mich
auf keinen Fall zeigen. Ich fühlte mich hässlich. Mit Tristia als meinem Spiegelbild
hatte ich ja immer vor Augen, wie ich aussah. Dass Sören, Kai und die anderen nicht
aufhörten, mich zu ärgern, machte es nicht besser.
Inzwischen stellte sich das warme wohlige Gefühl nicht mehr ein. In der Hoffnung,
die Zufriedenheit würde doch noch kommen, stopfte ich mich voll, bis mir schlecht
war.

Mein ganzes Taschengeld verbrauchte ich zum Kauf von Süßigkeiten. Als dies
nicht mehr ausreichte, ging ich Pfandflaschen sammeln. Ich nahm sogar manchmal
Geld aus dem Portemonnaie meiner Mutter, denn mein Sparschwein war auch
schon leer. Trotzdem schaffte es Tristia, mich immer wieder zu verführen, auch
wenn ich gar nicht naschen wollte.
Wollte ich mich aber mit Lisa treffen, wurde Tristia wütend. Sie war mit der Zeit
Stück um Stück gewachsen, stieß nun mit dem Kopf an die Zimmerdecke und
passte nur noch zusammengekauert gerade so in mein Bett.
Aus meiner kleinen Traurigkeit war eine große, sehr große geworden.
Schroff sagte sie: „Du bist undankbar nach allem, was ich für dich getan habe. Du
wirst schon sehen, wie es alleine ist.“ Sie könne ja jederzeit verschwinden, wenn ich
lieber mit Lisa zusammen wäre. Und wenn die mich wieder im Stich ließe, könne ich
zusehen, wie es sein würde. So machte ich Lisa auch nicht die Tür auf, wenn sie
mich besuchen wollte und klingelte.
In den Ferien überredete mich meine Mutter einige Male zu einem Ausflug in die
nächstgrößere Stadt, um in den Zoo, den Botanischen Garten, ins Planetarium,
Museum und in eine Bilderausstellung zu gehen.
Normalerweise hätte ich mich sehr darauf gefreut, aber nun... Nur ihr zuliebe willigte
ich ein. Denn schon Tage vorher machte Tristia mir Angst vor dem, was alles
passieren könnte. Zum Beispiel: eine Autopanne, ein Autounfall, ein endloser Stau
und nichts zu trinken, ein wildes Tier könnte ausbrechen, ich mir den Knöchel
verstauchen oder ich könnte von einer Wespe gestochen werden. Wenn ich meine
Mutter verlieren oder ihr etwas passieren würde und ich ohne sie allein in der
fremden Stadt wäre, was dann? Auch wenn nichts von alldem eintraf, hatte ich
immer im Hinterkopf, es könnte passieren.
Außerdem war es anstrengend, all die Menschen zu ignorieren, sie nicht anzusehen,
zu versuchen, sie zu überhören, wenn sie tuschelten.
Und da ich ja alles nur noch in Grautönen sehen konnte, machten mich diese
Ausflüge noch trauriger, als ich sowieso schon war. Ich konnte mir nur vorstellen
oder mich erinnern, wie herrlich bunt Tiere, Pflanzen und die Bilder der Ausstellung
waren.
Ohne Farben sehen zu können, war Malen und Zeichnen auch irgendwie sinnlos.
Wenn ich mich doch aufraffen konnte, wurden es sehr traurige Bilder. Aber
irgendwie befreite es mich ein wenig, meine Gefühle, Ängste, Befürchtungen in
einem Bild zu verarbeiten. Doch alle wurden von Tristia schlecht geredet. Ganz
unrecht hatte sie damit nicht. In meinem Kopf hatte ich immer ein genaues Bild, was
ich malen wollte, wie es aussehen sollte, schaffte es aber nie, es wirklich so aufs
Papier zu bringen. Schließlich war ich so frustriert, dass ich es gar nicht mehr
versuchte.


                                                                               9


„So, ich fahre jetzt zum Bahnhof, Oma abholen. Bitte tu mir den Gefallen, wenn du
schon nicht mitkommst, steh auf und sei angezogen, wenn wir da sind. Sie wird
traurig sein. Du hast sie immer mit abgeholt.“
Meine Mutter stand in der Tür meines Zimmers.
„Und du weißt, ich setze sie nur schnell hier ab. Ich muss dann gleich weiter zur
Arbeit. Hast du gehört?!“
Ich brummte nur, hörte, wie kurz darauf die Wohnungstür ins Schloss fiel.
Es war Samstag, eine Woche vor Heiligabend. Wie jedes Jahr kam meine Oma zu
uns und blieb bis nach Weihnachten.
Ich hatte so sehr gehofft, meine Traurigkeit würde zur Weihnachtszeit weniger
werden. Weihnachten hatte einen besonderen Zauber, dem ich mich sonst nicht
entziehen konnte: all die Lichter, die bunt geschmückten Straßen und Geschäfte,
der Weihnachtsmarkt mit seinen typischen Gerüchen, Süßigkeiten, die es nur zu
dieser Zeit zu kaufen gab – überall erklang Weihnachtsmusik, etwas
Geheimnisvolles lag in der Luft, die Menschen schienen ganz in einer
weihnachtseigenen Stimmung zu sein.
Doch in diesem Jahr spürte ich nichts von diesem Zauber. Selbst meinen
Weihnachtskalander hatte ich am ersten Tag leer gegessen und nicht mehr
angesehen. Sonst mochte ich das morgendliche Öffnen des Türchens, das Zählen
der Tage bis Heiligabend und das Kribbeln, wenn ich mir vorstellte, was ich wohl
alles geschenkt bekäme.
Nun war Oma gleich da. Wir würden viel Zeit miteinander verbringen: Plätzchen
backen, gemeinsam kochen, Geschenke kaufen, auf den Weihnachtsmarkt gehen,
einen Weihnachtsbaum kaufen, diesen und die Wohnung schmücken, und sie würde
mir jeden Abend eine Einschlafgeschichte vorlesen. Das musste mir einfach etwas
Freude machen.
„Tristia, wir müssen aufstehen!“ Ich stupste sie an.
„Noch fünf Minuten, es ist doch noch Zeit. Zähne putzen kannst du auch noch nach
dem Frühstück.“
Ich schloss die Augen und döste. Als ich wieder auf die Uhr schaute, waren vier und
eine halbe Minute vergangen.

„Tristia, Oma ist gleich da. Mutter wird schimpfen, wenn ich nicht angezogen bin“,
quengelte ich.
„Fünf Minuten sind noch nicht um!“, sagte Tristia scharf.
„Komm, bleib! Wir müssen uns doch noch Ausreden einfallen lassen, damit wir so
oft wie möglich hier im Zimmer bleiben und unsere Ruhe haben können.“
Ich nickte stumm. Dabei wollte ich nichts lieber, als all die Dinge mit Oma tun, die
Weihnachten so schön machten.
Als ich das Öffnen der Wohnungstür hörte, sprang ich aus dem Bett, stürzte in den
Flur direkt in die Arme meiner Oma.

Mutter sagte: „Sieh an, mein Kind ist wach und auf den Beinen.“ Sie verabschiedete
sich.
„Habt einen schönen Tag, bis heute Abend!“
Meine Oma drückte mich und ich meine Oma, so doll ich konnte, ich wollte sie nie
wieder loslassen. Plötzlich schossen mir Tränen in die Augen. Ich weinte und
konnte mich gar nicht beruhigen. Eine Spannung, die sich lange aufgebaut hatte,
entlud sich nun. All die Tränen, die ich lange zurückgehalten hatte, weinte ich jetzt.
Meine Oma hielt mich ganz fest. Lange standen wir so im Flur. Erst als ich sie
losließ, sagte sie:
„Komm, zieh dich an, dann kannst du mir erzählen, was dich bedrückt.“
Beim Anziehen überlegte ich, wie ich Oma meine Situation erklären könnte: wo am
besten anfangen? Wenn ich mich jemandem anvertrauen konnte, dann ihr. Ich
konnte es kaum erwarten, mit jemandem über Tristia zu reden.
Meine Oma schaute mich auffordernd an, als ich mich an den Frühstückstisch
setzte. Ich wollte gerade anfangen zu erzählen, da flüsterte Tristia, die neben mir
saß:
„Ich würde gut überlegen, ob du ihr von mir erzählst. Sie wird dir nicht glauben,
dich nicht ernst nehmen, vielleicht sogar denken, du spinnst. Oder sie denkt, du
willst sie veräppeln und wird dann sauer.“
Kurz überlegte ich, schwieg aber doch. Meine Oma wollte mich nicht drängen, sie
ließ mir etwas Zeit. Schließlich begann sie von sich zu erzählen und fragte auch
nicht mehr nach.
Heiligabend war gekommen. Ich wartete in meinem Zimmer darauf, dass mich meine
Mutter zur Bescherung ins Wohnzimmer rief.
„Tristia, bitte lass mich allein gehen, ich komme ganz schnell wieder, versprochen.“
Mir war klar, solange sie bei mir ist, würde sie nicht zulassen, dass ich mich freute,
dass ich etwas anderes fühlte als Angst oder Traurigkeit.
„Ach, du willst dich freuen? Woran denn? Hast du schon jemals das geschenkt
bekommen, was du dir gewünscht hast?“
Ich sagte mit fester Stimme: „Bitte bleib hier, nur dies eine Mal, nur für eine halbe
Stunde, bitte!“
„Wenn du wirklich glaubst, du kommst ohne mich zurecht? Na gut, versuch es. Aber
es kann sein, dass ich weg bin, wenn du zurück kommst“, antwortete Tristia
schnippisch.
Ich war mir nicht sicher, wie ernst sie dies meinte, sagte aber leise: „Ja, ich weiß.“

„Der Weihnachtsmann war da, kannst kommen!“ hörte ich meine Mutter beschwingt
rufen.
Ich schaute Tristia an. Sie sagte:„Geh nur.“
Als ich ins Wohnzimmer kam, saß meine Oma im Sessel neben dem
Weihnachtsbaum. Meine Mutter kniete neben den Geschenken unter dem Baum. Es
duftete nach Vanille und Zimt. Einzig Kerzen und der Weihnachtsbaum beleuchteten
das Zimmer. Oma und Mutter lächelten mich an. Beide stimmten mein liebstes
Weihnachtslied an, das wir gemeinsam sangen. Alle Strophen.
Mir wurde ganz feierlich zumute. „Ja“, dachte ich, „das ist Weihnachten“ und
lächelte, das erste Mal nach sehr langer Zeit, weil ich nicht anders konnte, es kam
von ganzem Herzen.
Ich setzte mich vor den Baum. Mutter reichte mir ein kleines Geschenk. Gerade als
ich es auswickeln wollte, erschien Tristia neben mir.
„Ich hab es mir anders überlegt“, zischte sie hämisch.
Noch bevor ich etwas denken konnte, sagte meine Mutter voller Ungeduld:
„Mach schon, pack aus!“

In einer Schachtel steckte ein Papier. Es war die Bestätigung der Anmeldung für
einen Malkurs auf meinen Namen. Einen Malkurs hatte ich mir schon immer
gewünscht. Ich war aber eigentlich noch nicht alt genug, um daran teilzunehmen.
Meine Mutter strahlte mich an, eine freudige Reaktion erwartend. Aber in mir stieg
Angst hoch, die Tristia befeuerte.
„Du wirst dich schön blamieren, so wie du malst. Und die Kinder werden dich
auslachen, ärgern und hänseln. Na, viel Spaß dabei! Ein tolles Geschenk!“ sagte sie
bitterböse.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, umarmte und bedankte mich bei meiner Mutter.
„Und damit du gut ausgerüstet, bist gibt es noch mehr.“ Oma reichte mir
freudestrahlend ihr Geschenk: einen Ölfarben-Malkasten mit Zubehör.
Es gab noch mehr Geschenke: Pinsel, einen Malblock für Ölfarben und ein Buch
über Maltechniken: „Alles in Öl.“
„Da kannst du gleich loslegen.“ Mutter und Oma schauten mich überglücklich an.
Und ich? Ich saß zwischen den besten Geschenken der Welt und konnte mich nicht
ein kleines bisschen darüber freuen. Das hatten die beiden nicht verdient. Ich sah
mich um, es war grau und öde. Der Weihnachtsbaum, das Zimmer, das
Geschenkpapier sollten doch bunt und strahlend sein. Es fühlte sich alles ganz
falsch an. Was, wenn es nie mehr anders wird? Was für ein Leben war das?
Ich dachte: „So kann es nicht weitergehen! Es muss sich etwas ändern, ICH muss
etwas ändern!“
Zu Tristia sagte ich energisch:
„Egal was du sagst oder tust, ich will und werde zu diesem Malkurs gehen. Du wirst
mich nicht davon abhalten!“
Tristia sah mich nur erstaunt an. Sie war sprachlos.


                                                                                 10


Natürlich versuchte Tristia, mir den Malkurs auszureden, aber ich war fest
entschlossen....

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